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  • Universitätsgebäude am Wittelsbacherplatz, Würzburg. (Foto: Robert Emmerich)
Lehrstuhl für Pädagogik bei Lernbeeinträchtigungen - Sonderpädagogik I

Bindung im Schwerpunkt Lernen (Herde, 2022)

von Kristin Herde

Die Genese einer sicheren Bindung kann als grundlegender Meilenstein in der Entwicklung eines Menschen gesehen werden (Ellinger/Hechler 2021). Neben der Ausbildung einer sicheren Bindung ist jedoch auch die Entwicklung einer (hoch-)unsicheren Bindung möglich (Ainsworth et al. 1978, Main/Solomon 1986). Unbesorgte angstfreie Exploration – also auch Lernen – ist aber nur dann denkbar, wenn ein Kind sicher an eine enge Bezugsperson gebunden ist und diese Person dem Kind bei Erkundung der Umgebung als sicherer Hafen dient (Günther 2012).

Günther (2012) konnte in ihrer Untersuchung an 63 Schüler*innen im Schwerpunkt Lernen aufzeigen, dass nahezu 70% unsicher bis hoch-unsicher gebunden sind. In der Düsseldorfer Längsschnittstudie (Gloger-Tippelt et al. 2007) zeigt sich eine nahezu identische Verteilung. Darüber hinaus gibt es etliche Befunde, die den Zusammenhang zwischen Bindung und verschiedenen Konstrukten des Lernens belegen. Die Bindungsentwicklung beeinflusst beispielsweise Aufmerksamkeit und Konzentration, die Motivation, das Selbstkonzept, das Sozialverhalten oder auch Emotionen (bspw. Bretherton 1985, Schleiffer 2009, Zimmermann/Spangler 2001, Grossmann/Grossmann 2014, Günther 2012) – alles Konstrukte, die in enger Verbindung mit Lernen stehen.

Da es nur wenige Untersuchungen zu dem direkten Zusammenhang zwischen Bindung und lernbeeinträchtigten Schüler*innen gibt, wurden im Rahmen dieser Zulassungsarbeit bindungsrelevante Verhaltensweisen von Kindern der Förderschule mit denen von Kindern der allgemeinen Schule verglichen. Dazu wurde das Bindungsscreening für Kinder im Grundschulalter aus Sicht der Lehrkraft (BinLe) (Walther 2022) genutzt. Die Items des Fragebogens sind den Skalen Prosoziales Verhalten, Überforderung, Kummer, Aggression/Wut, Klammern sowie Vernachlässigungzuzuordnen.

Für die Erhebung konnten drei Sonderpädagoginnen und zwei Grundschullehrerinnen gewonnen werden, die die Fragebögen für insgesamt 85 Schüler*innen (36 Förderschüler*innen, 49 Schüler*innen der allgemeinen Schule) ausfüllten. Der Altersdurchschnitt der Kinder lag bei 9;2 Jahren. Während die Schüler*innen der allgemeinen Schule relativ ausgeglichen männlich und weiblich verteilt waren, war an der Förderschule das männliche Geschlecht deutlich überrepräsentiert. 50% der Kinder der Förderschule lebten bei nur einem Elternteil. An der allgemeinen Schule war dies bei lediglich 10% der Fall. Auch hinsichtlich verschiedener Risikofaktoren zeigte sich eine signifikanter Unterschied zum Nachteil der Förderschüler*innen.

Tabelle 1: Skalenwerte (BinLe) des Förderzentrums (SFZ) und der Grundschule (GS): Skalenwerte von 0 (trifft überhaupt nicht zu) bis 5 (trifft vollkommen zu)

Eine Tabelle mit den Ergebnissen.

Die Untersuchung steht im Einklang mit bestehenden Forschungsergebnissen und ergab, dass Kinder der Förderschule auffälligere (negative) bindungsrelevante Verhaltensweisen zeigen als es gleichaltrige Kinder der allgemeinen Schule tun. Die Förderschüler*innen verhielten sich aus Lehrersicht weniger prosozial, waren stärker überfordert, häufiger von Kummer betroffen, aggressiver, zeigten mehr klammerndes Verhalten und erfuhren häufiger Vernachlässigung. Die bedeutsamsten statistischen Differenzen zeigten sich hinsichtlich Überforderung und Aggression/Wut zwischen den beiden Schülergruppen. Darüber hinaus konnte festgehalten werden, dass Kinder ungünstigeres bindungsrelevantes Verhalten an den Tag legten, je mehr Risikofaktoren sie erfahren mussten. 

Darüber hinaus wurde das Bindungsscreening als Selbsteinschätzung adaptiert und an die Schüler*innen ausgegeben. Dabei konnten die Skalen des BinLes nicht vollständig reproduziert werden. Lediglich die Skalen Prosoziales Verhalten und Kummer zeigten gute interne Konsistenzen. Die Skala Prosoziales Verhalten repräsentiert eine über die Schulformen hinweg positive Selbsteinschätzung der befragten Kinder, die sich für die Population der Grundschüler positiver ausformt, als für die Schüler*innen am SFZ (wenn sich auch keine signifikanten Unterschiede finden). Auch die Skala Kummer weist Unterschiede zwischen den Gruppen auf. Schüler*innen am SFZ zeigen hier deutlich höhere Werte als die Schüler*innen der Regelschule. Im Gegensatz zur Skala Prosoziales Verhalten sind diese Unterschiede hoch signifikant. 

Die Ergebnisse verweisen auf die Dringlichkeit, insbesondere Schüler*innen im Förderschwerpunkt Lernen Diskontinuitätserfahrungen (= neue, inkompatible Beziehungserfahrungen) zu ermöglichen. Die Lehrkraft als potenzielle Bezugsperson spielt dabei eine zentrale Rolle.