Intern
  • Universitätsgebäude am Wittelsbacherplatz, Würzburg. (Foto: Robert Emmerich)
Lehrstuhl für Pädagogik bei Lernbeeinträchtigungen - Sonderpädagogik I

Theorie

Theoretische Seminare

im Ausbildungsprogramm "Feinfühlig Unterrichten"

 

Bindungstheorie

Feinfühliges Lehrerverhalten basiert wesentlich auf den Erkenntnissen der Bindungstheorie. Die Entwicklung des Menschen im Allgemeinen und die Lernprozesse im Besonderen sind maßgeblich durch das Bindungsystem und das Explorationssystem bestimmt.

Immer dann, wenn wir einem Sachverhalt oder einer Situation gegenüberstehen, die uns ängstigen, wird unser Bindungssystem aktiviert und die Verhaltens- und Erlebensmuster abgerufen, die wir im Rahmen der Interaktion mit unseren früheren Bezugspersonen erworben haben.

Diese Muster bezeichnet die Bindungstheorie als internale Modelle. Genauer verweisen diese internalen Modelle auf unterschiedliche Bindungstypen. So lassen sich sicher-gebundene, unsicher-vermeidende, unsicher-ambivalente und desorganisierte Bindungstypen unterscheiden. Diese Muster strukturieren allgemein die Gestaltung unserer Lebenspraxis und haben eben auch besonderen Einfluss auf den Erfolg schulischen Lernens.

Heather Geddes, eine britische Lehrerin und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, hat darauf hingewiesen, dass sich die spezifischen Lerndreiecke (didaktische Dreiecke) je nach Bindungsorganisation unterschiedlich ausprägen und damit unterschiedliche Lernbeeinträchtigungen und Verhaltensstörungen nach sich ziehen können (Geddes 2005).

Für den sonderpädagogischen Förderschwerpunkt „soziale und emotionale Entwicklung“ hat Henri Julius, Professor für Verhaltensgestörtenpädagogik an der Universität Rostock, beeindruckend dargelegt, dass die Schülerinnen und Schüler mit einem entsprechend festgestellten Förderbedarf überwiegend als unsicher bis desorganisiert gebunden klassifiziert werden konnten (Julius 2001). Im Förderschwerpunkt Lernen scheint sich eine ähnliche Befundlage abzuzeichnen (Günther 2012; Ellinger 2013).

Bindungsorientiertes Lehrerverhalten charakterisiert sich in diesem Sinne dadurch, dass Lernbeeinträchtigungen und Verhaltensstörungen als Ausdruck eines spezifischen Bindungsmusters zu verstehen sind. Diese Konzeptualisierung hat Folgen für die Gestaltung des Unterrichts und der Lehrer-Schüler-Beziehung – sowohl mit Blick auf die sonderpädagogischen Interventionen (wenn also Bindungsmuster als ätiologische Faktoren für einen spezifischen sonderpädagogischen Förderbedarf anzunehmen sind) als auch mit Blick auf die Möglichkeiten einer sonderpädagogischen Prävention (immer dann also, wenn die Persönlichkeit des Lehrers und der Lehrerin und die Lehrer-Schüler-Beziehung für die Korrektur dysfunktionaler Beziehungsstrukturen systematisch eingesetzt werden).

Ob nun im Interventions- oder Präventionsfall oder aber als allgemeines Prinzip unterrichtlichen Handelns, feinfühliges Lehrerverhalten fördert das Lernen der Kinder, denn bei aktiviertem Bindungssystem unter den Bedingungen von Angst ist Lernen schwer möglich.

 

Psychodynamik

Wie aber lassen sich die Bindungsmuster und die internalen Arbeitsmodelle der Kinder erkennen? Denn es steht den Schülern ja nicht auf der Stirn geschrieben, welche Bindungsrepräsentationen das Denken, Fühlen und Handeln maßgeblich mitbestimmen. Hermann Nohl (1947) hat die Herausforderung des pädagogischen Verstehens so umrissen: „wir stehen vor einem Äußeren oder vor Äußerungen, die wir aus einem Inneren deuten müssen, das wir doch selbst wieder nur aus diesem Äußeren erschließen können“ (9).

Um trotz der skizzierten Schwierigkeiten doch noch zu einem handlungsleitendenden Verstehen der Schüler zu kommen, bietet sich die professionsspezifische Verstehensoperation der Psychoanalyse als eine Folie für pädagogisches Verstehen an. Im Zentrum des psychoanalytischen Verstehens stehen die Phänomene der „Übertragung“ und der „Gegenübertragung“.

Der Mensch neigt dazu, ob er will oder nicht, biographisch erworbene Muster der Beziehungsgestaltung aus dem „Dort und Damals“ der familiären Situation in das „Hier und Jetzt“ der aktuellen interpersonellen Verhältnisse zu übertragen und versucht damit unbewusst, diese nach den eigenen inneren Mustern zu gestalten. Das ist ganz normal und lässt sich auch nicht vermeiden. Sigmund Freud bemerkt hierzu: „Die Übertragung stellt sich in allen menschlichen Beziehungen ebenso wie im Verhältnis des Kranken zum Arzte spontan her…“ (Freud 1910, S. 55).

Und was für den Arzt und Patienten gilt, gilt in gleicher Weise auch für die Lehrer-Schüler-Beziehung. Der Schüler setzt seine intrapsychische Welt interpersonell in Szene, und der Lehrer wird gewissermaßen zum Mitspieler in dieser Aufführung. Von Bedeutung ist, dass der Lehrer diese Dynamik nicht vordringlich als Störung wahrnimmt, sondern, vielleicht nicht immer, aber doch in einem Bewusstsein um diese, die Gelegenheit nutzt und die eigenen gefühlmäßigen (Gegenübertagungs-)Reaktionen – einschließlich Gedanken, Phantasien, Handlungsimpulse – darauf hin befragt, was sie zum Verständnis des Schülers und seiner aktuell schwierigen Lernsituation beitragen können. Denn häufig gibt uns die eigenen Gestimmtheit einen Hinweis darauf, wozu und wie uns das Kind verwenden will, um die eigene Angst zu regulieren.

Ein auf die unterrichtliche Praxis bezogenes Fremdverstehen findet in diesem Sinne prinzipiell durch Selbstverstehen, also durch die die Analyse der eigenen Reaktionsbereitschaften, statt.

 

Gruppendynamik

In diesem Sinne widmen sich die theoretischen Seminare überwiegend der Vermittlung bindungstheoretischer Wissensbestände, ergänzen diese aber um gruppendynamische Erkenntnisse, denn Unterricht findet überwiegend in einer Gruppe statt.

Der Frage, wie sich Feinfühligkeit angesichts gruppendynamischer Phänomene realisieren lässt, wird in einem weiteren theoretischen Schwerpunkt nachgegangen. Hier interessieren uns vor allen Dingen die Thematiken, die gewissermaßen unter der Oberfläche des manifesten Unterrichts ihre Wirksamkeit entfalten.

Hierzu gehören die Beziehungsebene (Soziodynamik), die psychodynamische Ebene und die Ebene, auf der der Kernkonflikt der Klasse als Gruppe anzusiedeln ist. All diese Ebenen entziehen sich zumeist der bewussten Wahrnehmung, beeinflussen das unterrichtliche Geschehen aber in hohem Maße.

Ebenso gilt es zu beachten, dass der Klassenraum, ob wir das nun wollen oder nicht, zum gruppendynamischen Raum mit den strukturierenden Dimensionen Zugehörigkeit, Macht und Intimität wird. Viele Phänomene, ob nun auf einzelne Kinder oder auf die ganze Klasse bezogen, lassen sich so besser verstehen.

Auch erleichtert das Verständnis der Entwicklungsphasen der Klasse als Gruppe unsere unterrichtliche Arbeit. Jede Phase der Entwicklung hat spezifische Themen zum Gegenstand, die sich häufig von den Themen, wie wir sie uns für die Klasse und den Unterricht vorstellen, deutlich unterscheiden. Es muss dann abgewogen werden, ob sich unsere Themen durchsetzen lassen oder aber erst einmal den Themen der Klasse Raum gegeben werden muss, um dann wieder produktiven Unterricht zu ermöglichen.

Schließlich muss sich auch unsere Aufmerksamkeit auf die so genannte Rangstruktur einer Klasse richten. Funktionierende Arbeitsgruppen, und nichts anderes ist eine Klasse (selbstverständlich zählt hier die Lehrerin und der Lehrer dazu), zeichnen sich durch unterschiedliche Positionen aus, die auch personell repräsentiert sein sollten. So gibt es immer einen „Anführer“ (Alpha-Position) und einen „Gegenspieler“ (Omega-Position) in der Gruppe, um die sich sowohl „Mitläufer“ (Gamma-Position) als auch einzelne „Berater“ (Beta-Position) gruppieren. In gruppendynamischer Perspektive ist die Klasse damit ein immens heterogenes Gebilde – und muss es auch mit Blick auf ihre Funktionalität sein. Homogenisierende Interventionen schmälern sowohl das Potential der Klasse als auch der einzelnen Kinder. Allerdings bedarf es eines gruppendynamischen Wissens und Könnens, um die Potentiale des Klasse als Gruppe auch nutzen zu können, ohne in die Gefahr zu geraten, dass sich die Klasse zu einer „Anti-Gruppe“ (Nitsun 2014) entwickelt.

 

Literatur

Ellinger, S. (2013): Förderung bei sozialer Benachteiligung. Stuttgart

Freud, S. (1910): Über Psychoanalyse. Gesammelte Werke Bd. 8. Frankfurt am Main

Geddes, H. (2005): Attachment in the classroom. The links between children's early experience, emotional well-being and performance in school. A Practical Guide for Schools. Duffield

Günter, C. (2012): Bindung und Lernbehinderung. Der Einfluss der Bindungsqualität auf Beziehungsgestaltung und Sozialverhalten. Münster

Julius, H. (2001). Die Prävalenz von Gewalt- Verlust- und Vernachlässigungserfahrungen bei Kindern, die an Schulen für Erziehungshilfe unterrichtet werden. Heilpädagogische Forschung, 27, 88-97.

Nitsun, M. (2014): The Anti-Group: Destructive Forces in the Group and their Creative Potential (2. Aufl.). London

Nohl, H. (1947): Charakter und Schicksal. Eine pädagogische Menschenkunde (3. Aufl.). Frankfurt am Main