Teilhabe sehbeeinträchtigter Menschen durch alltagspraktische Fähigkeiten und Fertigkeiten - Eine wissenschaftliche Grundlegung (TaFF)
► Gefördert von der Friebe-Stiftung (Deutsches Stiftungszentrum im Stiftungsverband)
► In Kooperation mit: Blindenhilfswerk Berlin e.V. | Johann-August-Zeune-Schule für Blinde, Berlin | Paul-und-Charlotte-Kniese-Schule, Berlin | Nikolauspflege – Stiftung für blinde und sehbehinderte Menschen, Stuttgart | Blindeninstitutsstiftung, Würzburg | LSZ für Hör- und Sehbildung, Linz (A) | Blindenzentrum St. Raphael, Bozen (I)
► Projektlaufzeit: 10/2021 - 09/2025
► Projektmitarbeitende: Ines Matic, Andrea Sijp und Ingrid Schmitz
Zusammenfassung: Mit dem Projektvorhaben soll die Integration der fachlichen und fachdidaktischen Kompetenzen zu alltagspraktischen Fähigkeiten und Fertigkeiten (AFF) in das Lehramtsstudium für inklusionspädagogische Lehrkräfte im Förderschwerpunkt „Sehen“ angestoßen werden. Ausgehend von einer wissenschaftlichen Grundlegung sollen fundierte Module konzipiert und als fester Bestandteil der neuen Fachrichtung an der JMU Würzburg für den Förderschwerpunkt Sehen festgeschrieben werden. Im Rahmen des Projekts sollen dann die ersten beiden Studiendurchläufe der Module begleitet und bereits in dieser frühen Phase optimiert werden. Weitere Ziele sind die Entwicklung eines fachspezifischen Kompetenzprofils im Bereich AFF sowie die Erarbeitung und Veröffentlichung eines zeitgemäßen Lehrbuchs, welches das aktuelle Verständnis von Beeinträchtigung und Behinderung gemäß der UN-BRK aufgreift und Instrumente und Methoden zur Schaffung von Lernangeboten in AFF wissenschaftlich validiert zusammenfasst. Mit ersten konkreten Entlastungseffekten bei der Bereitstellung von Lernangeboten in AFF für sehbeeinträchtigte Lernende kann nach dem ersten Durchlauf des neuen Studiengangs gerechnet werden. Dieser Trend sollte sich dann im weiteren Verlauf durch den regelmäßigen, jährlichen Aufwuchs stabilisieren. Mit dem Projekt wird eine zukunftsfähige, neutrale und vor allem finanzierbare Möglichkeit geschaffen, sehbeeinträchtigte Lernende auch weiterhin beim Kompetenzaufbau in AFF zu unterstützen und damit nachhaltig zur Sicherung ihrer Teilhabe beizutragen.
1. Hintergrund und Motivation
Wie sich beim Blick in die schulische Praxis und anhand der aktuellen bildungspolitischen Maßnahmen erkennen lässt, muss gegenwärtig in allen inklusionspädagogischen Fachrichtungen ein erheblicher Fachkräftemangel attestiert werden. Die hieraus resultierende Verkürzung von Bildung und Deprofessionalisierung bedroht und behindert die schulische und damit auch die berufliche und private Teilhabe behinderter Menschen massiv.
Dieser Fachkräftemangel wird im zahlenmäßig kleinsten Förderschwerpunkt „Sehen“ besonders deutlich spürbar. Zum einen zeichnet sich die Gruppe sehbeeinträchtigter Lernender durch die fehlende Milieu-Spezifität durch eine hohe Heterogenität hinsichtlich der Lernbedürfnisse aus. Dies führt unter anderem zu einem hohen Disseminationsgrad wohnortnaher Lernorte, was differenzierte pädagogische Kompetenzen und Flexibilität sowie personalintensive Mobilität erforderlich macht. Zum anderen verfügt die Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Sehens über ein anspruchsvolles und elaboriertes Spektrum wirksamer Fördermöglichkeiten und Kompensationsstrategien, was nicht zuletzt der im Vergleich zu anderen Förderschwerpunkten frühen Professionalisierung und Institutionalisierung geschuldet ist.
Diese fachliche Breite lässt sich beispielsweise anhand des Spezifischen Curriculums in inklusiven Schulen nachvollziehen, das vom VBS 2011 vorgelegt und ausführlich begründet wurde. Hieraus ergibt sich das Anforderungsprofil an inklusionspädagogische Lehrkräfte im Förderschwerpunkt „Sehen“, welches abgesehen von den allgemeinen pädagogischen, fachdidaktischen und fachlichen Kompetenzen aus folgenden sechs behinderungsspezifischen Kompetenzbereichen besteht: Förderung des Sehens; Wahrnehmung und Lernen; Orientierung und Mobilität, Lebens- bzw. alltagspraktische Fähigkeiten und Fertigkeiten, Bewegung; Technische Hilfsmittel; Lebensplanung, Beruf und Freizeit; Soziale Kompetenz. Neben den intendierten Inhalten aus dem Rahmenlehrplan sollen demgemäß sehbeeinträchtigte Lernende umfangreiche Kompetenzen aus diesen sechs Bereichen im Bildungsverlauf erwerben.
Hierbei zeichnet sich vor allem der Kompetenzbereich „Orientierung und Mobilität, Lebens- bzw. alltagspraktische Fähigkeiten und Fertigkeiten, Bewegung“, der im Folgenden unter dem Oberbegriff „Alltagspraktische Fähigkeiten und Fertigkeiten“ (AFF) subsumiert wird, durch einige Besonderheiten aus.
Obwohl Lernangebote in AFF von der KMK als fester Bestandteil des Kompetenzprofils inklusionspädagogischer Lehrkräfte gelistet werden und auch im Spezifischen Curriculum keine explizite Differenzierung der Verantwortlichkeit vorgenommen wird, werden solche Angebote in der Regel von eigens qualifizierten Rehabilitationslehrkräften für sehbeeinträchtigte Menschen geschaffen.
Maßgeblich für diese Entwicklung ist nicht zuletzt die praktische Möglichkeit, die sich aus der Tatsache ergibt, dass gegenwärtig Lernangebote in AFF inhaltlich vom allgemeinen Rahmenlehrplan weitgehend unabhängig sind und somit prinzipiell auch außerschulisch als handlungsorientiertes Training von „Lebenstechnik“ realisiert werden können. Davon abgesehen bedingt die Delegation dieses spezifischen pädagogischen Erziehungs- und Bildungsauftrags logischerweise die Verfügbarkeit entsprechend qualifizierter Fachkräfte, was im Bereich AFF durch die Existenz eines eigenen Berufsbilds gegeben ist.
Diese Entkopplung und Delegation liegt an einem reziprok vorteilhaften Arrangement, das über die Jahrzehnte gewachsen ist. Während vor allem selbstständig tätige Rehabilitationslehrkräfte auf diesem Weg einen Teil ihres Auftragsvolumens rekrutieren, stellt die Auslagerung dieser - durch den gegenwärtig praktizierten ungewöhnlich hohen Individualisierungsgrad - sehr zeitintensiven Lernangebote eine erhebliche Entlastung für inklusionspädagogische Lehrkräfte dar.
Aus dieser Situation erwachsen Schwierigkeiten, wenn nicht mehr ausreichend Rehabilitationslehrkräfte zur Verfügung stehen, um die Lernbedürfnisse aller Lernenden zu befriedigen. Bei fehlenden Rehabilitationslehrkräften in Bildungseinrichtungen und natürlich auch darüber hinaus müssen faktisch inklusionspädagogische Lehrkräfte Lernangebote in AFF schaffen, wenn nicht auf gut gemeinte, deprofessionalisierte Angebote von Hilfskräften zurückgegriffen oder ganz auf solche Angebote verzichtet werden soll.
Da gegenwärtig der Kompetenzbereich AFF und ihre Fachdidaktik nur einführend und überblicksmäßig in den Lehramtsstudiengängen gelehrt und auch nicht als unmittelbarer Lehrauftrag von inklusionspädagogischen Lehrkräften begriffen wird, muss bei allen drei Strategien mit einer Verkürzung von Bildung gerechnet werden, welche die postulierte Teilhabe der Lernenden in allen Lebensbereichen erschwert. Der Nachfrageüberhang erschwert den Lernenden, zum einen ausreichend Lernangebote wahrnehmen zu können. Zum anderen verringert die geringe Auswahl der Lehrenden unter Umständen Erfolge im Kompetenzbereich AFF, da im Lernprozess die persönliche Beziehung besonders wichtig ist.
2. Projektidee und strategische Ziele
Während sich inzwischen bei inklusionspädagogischen Lehrkräften im Förderschwerpunkt „Sehen“ durch steigende Studierendenzahlen an diversen Studienstätten sowie durch die Neueinrichtung eines Studiengangs an der JMU Würzburg eine Entspannung abzeichnet, ist bei den Rehabilitationslehrkräften mit einer weiteren Verschärfung des Nachfrageüberhangs zu rechnen. Diese Verschärfung liegt nicht nur an der anstehenden Verrentungswelle, sondern auch daran, dass die gegenwärtigen Ausbildungsangebote kosten- und zeitintensiv sind. Sie stellen vor allem öffentliche Bildungseinrichtungen vor herausfordernde Aufgaben.
Diesem Missstand möchten wir mit dem gegenständlichen Projektvorhaben begegnen. Wir möchten eine zukunftsfähige und durch die Bindung an einen universitären Studiengang vor allem finanzierbare Alternative zum bestehenden Ausbildungssystem entwickeln und umsetzen, mit welcher sich nachhaltig die Versorgung von sehbeeinträchtigten Menschen mit Lernangeboten aus dem Bereich AFF sicherstellen lässt.
Ausgehend von einer wissenschaftlichen Grundlegung der Kompetenzbereiche in AFF sollen fundierte Module entwickelt werden, die als fester Bestandteil im neuen Studiengang „Pädagogik bei Sehbeeinträchtigungen“ verankert werden, der im Wintersemester 2021/2022 an der JMU Würzburg gestartet ist. Die Modulinhalte bauen dabei auf die üblichen pädagogischen, fachdidaktischen, psychologischen, diagnostischen und medizinischen Studieninhalte auf, die bei Lehramtsstudierenden im Förderschwerpunkt „Sehen“ vorausgesetzt werden können. Um dementsprechend die Studierbarkeit zu gewährleisten, sind die Module im empfohlenen Studienverlauf im fünften Semester eingeplant. Die ersten beiden Durchläufe der Module sollen mit der Intention der Qualitätssicherung und Verbesserung wissenschaftlich begleitet und evaluiert werden, um ggf. unmittelbar intervenieren und nachsteuern zu können.
Außerdem soll das Lehrangebot soweit wie möglich digital aufbereitet und durch passende praktische Übungseinheiten ergänzt werden, um beispielsweise eine Umsetzung als „umgedrehter Unterricht“ (Flipped Classroom) dezentral in Übungsgruppen zu ermöglichen. Davon ausgehend kann über Möglichkeiten der dezentralen Nachqualifizierung von bereits aktiven inklusionspädagogischen Lehr- und Fachkräften nachgedacht werden.
Die konkrete Ausgestaltung und der Umfang der Module werden mit Verweis auf die umfangreichen konzeptuellen und curricularen Vorarbeiten erst im Verlauf des Projektvorhabens festgelegt. Außerdem werden an dieser Stelle bewusst keine Aussagen zu möglichen außeruniversitären Zertifizierungen jenseits des Berufsbilds inklusionspädagogischer Lehrkräfte getroffen. Entsprechende Überlegungen und Kooperationen werden erst im Projektverlauf, vor dem Hintergrund der gesammelten Erfahrungen, eruiert und diskutiert.
Zwecks der curricularen Weiterentwicklung des Modulhandbuchs des neuen Studiengangs soll im Rahmen des Projekts ein umfassendes fachspezifisches Kompetenzprofil im Bereich AFF entstehen, was auch der akademischen Profilierung der Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Sehens zuträglich sein dürfte. Schließlich soll ein zeitgemäßes Lehrbuch erarbeitet und veröffentlicht werden, welches das aktuelle Verständnis von Beeinträchtigung und Behinderung gemäß der UN-BRK aufgreift und Instrumente und Methoden zur Schaffung von Lernangeboten in AFF wissenschaftlich validiert zusammenfasst.
Mit ersten konkreten Entlastungseffekten bei der Bereitstellung von Lernangeboten in AFF für sehbeeinträchtigte Lernende in Bildungseinrichtungen kann nach dem ersten Durchlauf des neuen Studiengangs gerechnet werden. Dieser Trend sollte sich dann im weiteren Verlauf durch den regelmäßigen, jährlichen Aufwuchs stabilisieren.
Die einzelnen Ziele des Projektvorhabens sollen im Folgenden im Detail begründet und konkretisiert werden.
Wissenschaftliche Grundlegung der AFF
Die traditionelle „Blindenlehrerausbildung“ entwickelte sich als eine berufsorientierte „Meisterlehre“ an den Schulen für sehbeeinträchtigte Lernende, wodurch für lange Zeit eine fundierte wissenschaftliche Reflexion und Durchdringung ausblieb. Frühe Literatur zu Didaktik und Pädagogik bei Sehbeeinträchtigungen wies daher oft einen Ratgebercharakter auf und bestand aus konkreten Anweisungen und Erziehungsprinzipien, die auf Privattheorien und abduktiv verallgemeinerten Praxiserfahrungen beruhten.
Vor gut 60 Jahren setzte dann ein erster Veränderungsprozess ein, als sich akademische Ausbildungen für inklusionspädagogische Lehrkräfte an den Universitäten zu etablieren begannen und eine intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den fachlichen Inhalten der Berufsfelder im Förderschwerpunkt „Sehen“ einsetzte.
Von diesem Veränderungsprozess wurden jedoch nur die Handlungsfelder erfasst, die unmittelbar und umfänglich an die Schulen gebunden waren. Da Lernangebote in AFF nicht nur an Schulen, sondern beispielsweise auch in der beruflichen Rehabilitation nach erworbener Sehbeeinträchtigung oder der Teilhabesicherung bei Sehverlust im Alter nachgefragt wurden, konnte sich parallel zum sich akademisierenden Berufsbild inklusionspädagogischer Lehrkräfte ein weiterhin an der „Meisterlehre“ orientiertes spezialisiertes Berufsbild, das der Rehabilitationslehrkräfte, abspalten und festigen. Rehabilitationslehrkräfte erhielten eine unabhängige Leistungsfinanzierung durch die Krankenkassen, sodass sich schließlich das Berufsbild als feste Größe innerhalb der Pädagogik und Rehabilitation bei Sehbeeinträchtigungen konsolidierte. Aus diesem Grund erfuhr der Kompetenzbereich AFF bis heute keine akademische Professionalisierung und lediglich eine überschaubare wissenschaftliche Reflexion.
Mit der geplanten wissenschaftlichen Fundierung des Kompetenzbereichs AFF sollen einige grundlegende Bedingungen und Postulate aktualisiert und bekräftigt werden, die mit Blick auf die UN-BRK für die Realisierung eines integrativen Bildungssystems auf allen Ebenen essenziell sind und somit auch in der Pädagogik bei Sehbeeinträchtigungen maßgeblich sein müssen.
Zum einen geht es um die Forderung, dass alle behinderten und unbehinderten Lernenden gleichermaßen in einem Bildungssystem für alle einen Anspruch auf akademisch gebildete Lehrkräfte für die Gestaltung ihrer Bildungs- und Erziehungsprozesse haben. Demgemäß müssen auch alle schulisch verorteten Lernangebote im Kompetenzbereich AFF von akademisch gebildeten Lehrkräften geschaffen und nicht nur verantwortet werden. Zum anderen bedarf es der engen Verwebung des Kompetenzbereichs AFF mit den allgemeinen Bildungsinhalten und Fachdidaktiken, um die entsprechenden Inhalte aus der individualisierten Perspektive von remedialer und normativer „Therapie“ oder gar schlichter bildungsferner Pflege zu lösen und im Rahmen des allgemeinen Bildungsauftrags zu legitimieren.
Die Komplexität dieser Aufgabe besteht darin, den bestehenden Denkmustern eine wissenschaftliche Fundierung zukommen zu lassen, um eine solide Basis für eine weiterführende Durchdringung und Reflexion zu schaffen.
Didaktische Konzeption der Module
Die Module sind als Teil eines regulären Studiengangs den üblichen Qualitätsstandards und Evaluationsprozessen unterworfen, werden in ihrer grundsätzlichen Ausrichtung bei der Akkreditierung gutachterlich geprüft und genügen somit auch den hochschuldidaktischen Ansprüchen. Innerhalb dieses Rahmens sollen die Freiheitsgrade entlang der Erkenntnisse der evaluativen Begleitung zur Verbesserung und Erweiterung der Lehrangebote genutzt werden. Die konkrete Ausgestaltung ist Teil der Projektarbeit selbst und auch sukzessive auf die bis dahin gesammelten Erkenntnisse aufbauen. Somit lassen sich an dieser Stelle nur grobe Prinzipien formulieren, welche zur Anwendung kommen werden.
Ausgangspunkt für die Konzeption der Module ist die Ausrichtung an den unterschiedlichen Zielgruppen der Lernangebote in AFF, die sich in den vergangenen Jahren zunehmend spezifiziert haben.
Durch die Verfügbarkeit zielführender assistiver Technologie und der Möglichkeit zur Informationsgewinnung in sozialen Netzwerken hat sich die Situation vieler sehbeeinträchtigter Menschen in Bezug auf AFF maßgeblich verändert. Zum einen bieten solche Technologien zahlreiche situative Problemlösungen beispielsweise in Bezug auf Orientierung oder Wahrnehmung an. Zum anderen ermöglichen sie sehbeeinträchtigten Menschen eine autodidaktische Erweiterung ihrer Kompetenzen in AFF. Demgemäß haben individualisierte Lernangebote in AFF für sehbeeinträchtigte Menschen mit ausreichender Medienkompetenz an Bedeutung verloren, während die Nachfrage nach informierenden Lernangeboten und die Möglichkeit zum gemeinsamen Power-Sharing steigt.
Seh-mehrfachbeeinträchtigte Menschen hingegen erhalten nicht zuletzt durch die sozialrechtlichen Veränderungen der vergangenen Jahre zunehmend die Möglichkeit, ihren Anspruch auf selbstbestimmtes Leben, autonomes Wohnen und kulturelle Teilhabe durchzusetzen. Dadurch steigt die Nachfrage nach pädagogisch und fachdidaktisch individualisierten und vor allem auch regelmäßigen Lernangeboten jenseits von algorithmischen Trainings und Gebrauchsanleitungen im Bereich AFF an.
Ein weiterer relativ robuster Teil der Zielgruppe sind Menschen mit erworbenen Sehbeeinträchtigungen, die sich an die neuen Gegebenheiten anpassen möchten und im psychosozialen Transitionsprozess von einer Person mit eingeschränktem Sehvermögen zur sehbeeinträchtigten Person sind. Genau diese Gruppe von Lernenden dürfte aus fachdidaktischer Sicht am ehesten vom traditionellen mechanistischen Kompensationsansatz profitieren, da unmittelbar auf Seherfahrungen zurückgegriffen werden kann, die im Rekonstruktionsversuch in ihrer Vertrautheit Orientierung und Halt geben und wiederentdeckt werden können.
Diesem Teil der Zielgruppe steht schließlich auch weiterhin diametral die Gruppe sehbeeinträchtigter Menschen ohne Seherfahrungen gegenüber, die wesentlich von der anvisierten wissenschaftlichen Fundierung und der damit verbundenen fachlichen und perspektivischen Erweiterung profitieren dürften.
Diese Differenzierung macht deutlich, dass sich die pädagogischen, fachdidaktischen und fachlichen Herangehensweisen abhängig von der Zielgruppe maßgeblich unterscheiden müssen, um die tatsächlichen Lernbedürfnisse überhaupt adressieren zu können. Eine zentrale Herausforderung besteht hierbei darin, die eigene „Fantasie“ hinsichtlich der Vorstellungen von Sehbeeinträchtigung in einer visuell orientierten, sozialen Welt in den Griff zu kriegen, um überhaupt passende Lernangebote zu schaffen, wie es Renate Walthes auf den Punkt bringt. Genau aus diesem Grund müssen die zu entwickelnden Module unmittelbar an die erworbenen pädagogischen, fachdidaktischen, psychologischen, diagnostischen und medizinischen Kompetenzen angehender inklusionspädagogischer Lehrkräfte anknüpfen, durch welche die Grundlage für eine solche distanzierte und reflektierte Perspektive gelegt wird.
Eine Besonderheit der AFF besteht darin, dass diverse Bewegungsmuster und Handlungsroutinen sowie Konzepte zum Umgang mit möglichen funktionalen Einschränkungen über einen längeren Zeitraum hin eingeübt werden müssen. Dies soll unter Einbezug der dazugehörigen fachdidaktischen Strategien durch deklaratives Lernen des abstrakten Erfahrungswissens sowie durch periodische Verhaltensbeobachtungen, Simulationsübungen unter visueller Deprivation und durch praktische Simulationen und Übungen in der zukünftigen Rolle als Lehrkraft aufgebaut werden.
Die Simulation soll nicht als Methode zur autopoietischen Generierung von Bewegungsmustern und Handlungsroutinen und zur sich daran anschließenden abduktiven Verallgemeinerung verwendet werden, sondern als Ausgangspunkt für gemeinsame Reflexionen, um den individuellen Charakter der Wahrnehmung herauszuarbeiten, der zu ganz unterschiedlichen Bedürfnissen führen kann. Davon abgesehen nehmen die Lernenden zur Übung in der zukünftigen Rolle als Lehrkraft abwechselnd die Rolle der Trainees ein, was mithilfe einer Simulationsbrille zur visuellen Deprivation erreicht wird. Der didaktische Nutzen besteht hier vor allem in der Konstruktion einer durch ihre Einzigartigkeit möglichst realen Lernsituation für alle Beteiligten.
Das letzte hier genannte Prinzip, welches die Konzeption der Lehrangebote prägen soll, ist die didaktische Abstraktion, mit welcher die im Kontext AFF häufig zu beobachtende dogmatische Fixierung auf festgelegte und für „richtig“ befundene Praktiken gelöst werden soll.
Konzepte, Bewegungsmuster und Handlungsroutinen in AFF sollen als eine von vielen mehr oder weniger passenden Möglichkeiten erkannt werden, die ihren praktischen Nutzen erst in der konkreten Situation entfalten oder eben auch nicht. Demgemäß gilt es der Bildung von Routinen und Systematiken im Unterrichtsentwurf entgegenzuwirken. Der Fokus soll also auf dem Erlernen eines Werkzeugkastens zur möglichst flexiblen Planung und Gestaltung situativ bestimmter Unterrichtseinheiten liegen und nicht auf dem Einüben einer Lehrroutine, welche die Aufgabe der pädagogischen Adaption an die Lernenden delegiert. Um diese didaktische Abstraktion zu begünstigen, sollen die Studierenden im Sinne des lernenden Forschens selbst im Feld nach alternativen Konzepten und Handlungsroutinen suchen und diese dann in der Lerngruppe gemeinsam reflektieren.
Abschließend sei noch erwähnt, dass die Lehrveranstaltungen als digitale Lernangebote aufbereitet und so einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollen.
Fachspezifisches Kompetenzprofil und Studieninhalte
Da es gegenwärtig kein fachspezifisches Kompetenzprofil im Bereich AFF gibt, kann auch nicht auf ein solches zurückgegriffen werden. Demgemäß verwenden wir vor dem Hintergrund unserer eigenen Erfahrungen ein deduktiv intendiertes Kompetenzprofil als Provisorium, welches sich auf die Inhalte des Spezifischen Curriculums des VBS, das amerikanische Spezifische Curriculum ECC und die verfügbare englischsprachige Fach-/Sachliteratur bezieht.
Im Rahmen der Evaluation soll ein systematisch überarbeitetes und erstes ausführlich fundiertes, fachspezifisches Kompetenzprofil mit einem Katalog an fachspezifischen Inhalten entstehen, welches dann im Rahmen der ersten Novelle der SPO des neuen Studiengangs übernommen werden kann. Als Orientierung soll hier gleichfalls das Verständnis für fachspezifische Kompetenzprofile der KMK in Bezug auf Lehramtsstudiengänge in der Sonderpädagogik im Förderschwerpunkt Sehen dienen. Ein solches Profil listet zum einen die fachspezifischen Kompetenzen auf, welche die Absolventinnen und Absolventen erworben haben müssen. Zum anderen beinhaltet es ein Verzeichnis der Lerninhalte, die nach Fachkompetenzen, fachdidaktischen Kompetenzen und pädagogischen Kompetenzen gegliedert sind.
Lehrbuch
Gegenwärtig gibt es kein zeitgemäßes deutschsprachiges Lehrbuch zum Thema AFF. Ein solches Lehrbuch würde nicht nur die tägliche Berufspraxis, sondern auch die inklusionspädagogischen Bildungsprozesse bereichern. Fachwissen, Handlungsmuster und methodische Ansätze sind fragmentarisch in allgemein gefassten Büchern, in einigen inzwischen deutlich veralteten Werken oder in Blogs, Videos (YouTube) auf Webseiten, insbesondere aus dem amerikanischen Raum, verfügbar.
Mit dem Projektvorhaben soll in interdisziplinärer Zusammenarbeit der beteiligten Fachdisziplinen ein zeitgemäßes Lehrbuch entstehen, welches auf ein modernes Bild von behinderten Menschen baut und im gemäßigten konstruktivistischen Sinne Fachkompetenz als Werkzeugkasten zur gemeinsamen Entwicklung von passenden Lösungen versteht.