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    Lehrstuhl für Pädagogik bei Sehbeeinträchtigungen sowie Allgemeine Heil-, Sonder- und Inklusionspädagogik

    Konzeption und Implementierung eines webbasierten Weiterbildungsprogramms zu Assistiven Technologien im Kontext Sehen (ATA)

    ► Gefördert von der Dieter Schwarz Stiftung GmbH, Heilbronn
    ► In Kooperation mit: Nikolauspflege – Stiftung für blinde und sehbehinderte Menschen, Stuttgart
    ► Projektlaufzeit: 04/2019 - 03/2023
    ► Beteiligte Mitarbeitende: Jürgen Fleger, Ines Matic, Julia Dreyer und Julia Feldmann (inzwischen ausgeschieden)

    Zusammenfassung: Im Rahmen des Projekts soll ein modulares webbasiertes Weiterbildungsprogramm entwickelt werden, welches den Einsatz von assistiven Technologien im Unterricht von Lernenden mit einer Sehbeeinträchtigung zum Gegenstand hat und somit in die technischen Kompetenzen im Umgang mit AT einführt und diese durch entsprechende Übungen vertieft. Zielgruppe des Weiterbildungsprogramms sind Studierende des Förderschwerpunkts Sehen, aktive sonderpädagogische Förder- und Beratungslehrkräfte sowie interessierte Studierende und Lehrkräfte anderer Fachrichtungen.

    1. Hinführung zum Projektgegenstand

    Das in Art. 24 der UN-BRK geforderte inklusive Bildungssystem bezieht den technischen Fortschritt und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten mit ein. Während z. B. blinde Menschen vor wenigen Dekaden einen Behördenbrief nicht ohne fremde Unterstützung lesen konnten, sind sie heute bei günstigen Rahmenbedingungen mit Hilfe von assistiven Technologien, entsprechenden Arbeitstechniken und digitalen Medien in der Lage, weitgehend selbstständig ein Hochschulstudium zu absolvieren.

    Inzwischen ist der Einsatz von assistiven Technologien und digitalen Medien (AT/A) vor allem bei sehbeeinträchtigten Menschen eine der wesentlichen Voraussetzungen für die selbstbestimmte Teilnahme an inklusiven Bildungsprozessen. Außerdem stellt mittlerweile in vielen Fällen der Einsatz von assistiven Technologien einen entscheidenden Faktor für eine gelingende und umfassende berufliche Teilhabe von sehbeeinträchtigten Menschen dar. Dies soll selbstverständlich nicht die Bedeutung der zahlreichen weiteren Faktoren für das Gelingen inklusiver Bildungsprozesse schmälern und die Inklusion auf eine Aufgabe reduzieren, die sich rein durch den Einsatz von Technik lösen ließe.

    2. Kompetenzen im Umgang mit AT/A

    Um AT/A zielführend einsetzen zu können, ist die sichere Verwendung der Tastatur und der behinderungsspezifischen Ein- und Ausgabegeräte notwendig. Außerdem muss ein Verständnis für die grafische Bedienoberfläche entwickelt werden. Schließlich sind Grundlagen zum Dateimanagement, der Textverarbeitung und der Tabellenkalkulation nicht nur hilfreich, sondern häufig erforderlich. Die Bedienkonzepte unterscheiden sich dabei grundlegend von der herkömmlichen Arbeitsweise am Computer. Die grafische Bedienoberfläche verliert unter den Bedingungen einer nicht primär visuell orientierten Arbeitsweise ihre zentralen Vorteile: die intuitive Führung und die Maussteuerung. Die sich daraus ergebenden Nachteile müssen durch das abstrakte, objektorientierte Verständnis der Bildschirminhalte und ein tastaturbasiertes Steuerungskonzept kompensiert werden.

    Außerdem können AT/A ihre volle Wirkung nur entfalten, wenn die verwendeten Medien zugänglich sind. Dies wird durch die eigenverantwortliche Aufbereitung, Umgestaltung und Erzeugung von Medien erreicht, sofern diese nicht von vornherein in einem geeigneten Format vorliegen. Hierzu gehört beispielsweise die Digitalisierung von Schriftmaterial, die auditive Aufbereitung, die Aufbereitung von Präsentationsfolien, die textuelle Beschreibung (Verbalisierung) von Grafiken, Bildern und visuellen Modellen oder auch die Anfertigung von haptischen Modellen.

    Mit einer anfänglichen Einführung ist es jedoch in der Regel nicht getan. Das Sehvermögen kann sich physiologisch oder psychisch induziert im Verlauf der Schulzeit verbessern oder verschlechtern. Der schulische Fortschritt oder die zunehmende Sicherheit im Umgang mit einzelnen AT/A kann die Bedürfnisse verändern. Abgesehen von diesen intrapersonellen Faktoren werden die subjektiven Bedürfnisse auch von äußeren Einflüssen beeinflusst. Die Art der benötigten Technologien wird durch den Lernstoff, die Unterrichtsmethoden und damit durch die Jahrgangsstufe mitbestimmt. Schließlich werden sich im Verlauf einer Schulbiographie auch die zur Verfügung stehenden AT/A verändern, wodurch sich effizientere Kompensationsstrategien ergeben können. Der Grad des Gelingens der sozialen Inklusion im familiären oder schulischen Umfeld kann den technischen Assistenzbedarf stark beeinflussen. Auf diesem Weg ist eine fortdauernde Begleitung, Beratung, technische Unterstützung und Schulung über den gesamten Bildungsprozess hinweg entschieden von Vorteil.

    3. Ausgangslage

    Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie und von wem sehbeeinträchtigte Menschen diese technischen Kompetenzen im Umgang mit AT/A lernen sollen und wie die Lehrenden ihre Qualifikation erlangen.

    Die behinderungsspezifische Förderung wird in der Regel von sonderpädagogischen Fachkräften geplant und verantwortet. Auch primär technische Themen wie Zugänglichkeit und behinderungsspezifische Arbeits- und Kompensationstechniken im Kontext der assistiven Technologien gehören zu deren Aufgabenbereich.

    Bei der Realisierung eines entsprechenden Kompetenzaufbaus durch Lehrkräfte ergeben sich in der Regel innerhalb der sonderpädagogischen Fördereinrichtungen andere Voraussetzungen als in Allgemeinen Schulen, in denen einzelne sehbeeinträchtigte Lernende lernen. In sonderpädagogischen Fördereinrichtungen findet der Kompetenzaufbau häufig unterrichtsbegleitend in direkter Anleitung durch die Lehrkräfte statt. Hierzu kommen manchmal auch spezielle zusätzliche Unterrichtsangebote, sofern entsprechender Bedarf besteht. In Bildungsprozessen an Allgemeinen Schulen gestaltet sich der Kompetenzerwerb, der von einer Beratungslehrkraft verantwortet wird, häufig deutlich schwieriger. In der Regel begleiten Beratungslehrkräfte mehrere Lernende an unterschiedlichen Standorten. Zudem erledigen sie formale Aufgaben, beraten und müssen möglicherweise eigenen Unterricht in ihrer Stammschule vorbereiten. Hierdurch kann sich die tatsächliche Zeit in der Auseinandersetzung mit einzelnen Lernenden stark reduzieren. Die direkte Auseinandersetzung mit den sehbeeinträchtigten Lernenden wird dann häufig an die Schulbegleitung delegiert, die selten die notwendigen technischen Kompetenzen mitbringt und ohnehin nicht pädagogisch tätig sein darf.

    Um diesen Schwierigkeiten zu begegnen, wurden in einigen Bundesländern Kompetenzzentren für den Umgang mit AT/A etabliert. Diese Medienberatungszentren unterstützen die Lehrkräfte bedarfsabhängig durch konkretes Knowhow, spezielle Beratungen und technische Hilfe, die digitale Aufbereitung von Unterrichtsmaterial etc. Unabhängig von der effektiven Lernform bleiben die abrufbaren Kompetenzen der einzelnen Lehrkraft der kritische Faktor und hieran kann natürlich auch ein leistungsstarkes Medienberatungszentrum nichts ändern. Anders formuliert müssen Lehrkräfte in jedem Fall über die notwendigen technischen Kompetenzen verfügen. Demgemäß lässt sich die Frage, wo und von wem sehbeeinträchtigte Lernende die technischen Kompetenzen erwerben, weiterdenkend umformulieren: Wie erwerben Lehrkräfte ihre didaktischen und pädagogischen Kompetenzen, um die sehbeeinträchtigten Lernenden beim Aufbau ihrer technischen Kompetenzen zu unterstützen?

    Konkrete Kompetenzen im Umgang mit AT/A nehmen aktuell in den meisten sonderpädagogischen Lehramtsstudiengängen eine eher marginale Rolle ein, was einen fundierten Kenntnis- und Kompetenzerwerb durch angehende Lehr- und Beratungskräfte erschwert. Gründe gibt es hierfür viele. Curriculare Veränderungen sind mühsam, der Aufbau einer entsprechenden personellen Expertise ist komplex und primär technische Themen verlangen nach anderen ressourcenintensiven Rahmenbedingungen, wie modern ausgestattete und funktionsfähige Computerräume und natürlich der Ausstattung mit der gegenständlichen assistiven Technologie. Schließlich muss beachtet werden, dass einige ausgebildete Lehrkräfte und Lehramtsstudierende eine eher geringe Technikaffinität mitbringen und nur durch eine didaktisch hochwertige Heranführung ihre Ängste vor technischen Themen abbauen können.
    In der Praxis bedeutet dies aktuell, dass Lehrkräfte ihre Kompetenzen im Umgang mit AT/A im besten Fall im Rahmen von Fortbildungen, z. B. durch die Medienberatungszentren oder durch das Selbststudium, erwerben und aktuell halten müssen.

    4. Projektidee

    Die bisherigen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass ein hoher Bedarf an Expertise und qualifizierten Fachkräften im Bereich des Einsatzes von AT/A besteht und aktuell keine systematischen Strategien vorliegen, um diesen Bedarf zu decken. Der Bedarf besteht dabei unabhängig von der Existenz von Medienberatungszentren oder anderen Organisationen, die eine Qualifizierung für sehbeeinträchtigte Menschen anbieten und organisieren. Auch diese Einrichtungen benötigen qualifizierte Fachkräfte, um der steigenden Nachfrage durch den Anstieg der Inklusionsquote und dem Fachkräftemangel zu begegnen oder das bestehende Angebot zu verbessern.

    Im Rahmen des Projekts soll ein modulares webbasiertes Weiterbildungsprogramm entstehen, welches in die technischen Kompetenzen im Umgang mit AT/A einführt und diese durch entsprechende Übungen vertieft.

    Das Lernangebot soll Module mit grundlegenden behinderungsspezifischen Arbeitstechniken und Konzepten enthalten, die relativ robust gegenüber technischen Neuerungen sind. Hierzu gehören Lektionen zur Screen Reader Technologie, zum Umgang mit grafischen Benutzeroberflächen, zum Dateimanagement, zu nicht visuell orientierter Textverarbeitung und Tabellenkalkulation sowie zum Umgang mit Smartphones. Außerdem soll ein technisches Grundverständnis entwickelt werden, um Kompetenzen in der Fehlerbehandlung rund um die Funktionalität der assistiven Technologien aufzubauen.
    Im Weiterbildungsprogramm ist der praktische Einsatz der AT/A Unterrichtsgegenstand selbst. Die Lerninhalte werden in überschaubare Lektionen zerlegt. Die Lernenden bearbeiten diese Einheiten eigenständig, im selbst festgelegten Arbeitstempo und unter freier Wahl der Sozial- und Arbeitsform. Die Lektionen sind in theoretische Abschnitte, Beispiele, Praxissituationen, Übungsaufgaben mit Lösungshinweisen usw. gegliedert und werden möglichst sensorisch parallelisiert (Videos, Texte, Bilder, Schemata, Audiodateien usw.) angeboten. Das Lernangebot ist so konzipiert, dass es in Kleingruppen innerhalb unterschiedlicher Bildungseinrichtungen (Seminare, Kurse, Fortbildungen etc.) angeboten werden kann und durch Dozierende begleitet wird. Selbstverständlich ist auch eine eigenständige Bearbeitung möglich.

    Eine weitere wichtige Komponente des Lernangebots bezieht sich auf die Förderung der Technologieakzeptanz. Die Kompetenzsteigerung im Umgang mit AT/A hängt von einer initialen Akzeptanz und dauerhaften Motivation zur Nutzung von Technologien ab. Diese sind aus verschiedenen Gründen (z. B. mangelndes Wissen, Unsicherheiten, Ängste) anfänglich oft nicht ausreichend vorhanden, weshalb diese durch spezifische Informations- und Motivationsimpulse gestärkt werden sollen. Hierfür sollen z. B. über das gesamte Lernangebot verteilt einzelne Aufgaben und Beispiele eingebunden werden, welche die Handhabbarkeit von AT/A und die damit verbundenen Möglichkeiten herausstreichen.

    Alle Lektionen des Lernangebots stehen als kostenloses und freies Angebot allen Interessierten zur Verfügung. Zur Zielgruppe gehören in erster Linie Studierende des Förderschwerpunkts Sehen. Das Lernangebot wird als Pflichtbestandteil als eigenes Studienmodul in die neue Fachrichtung an der Universität Würzburg eingebunden. Es wird für bereits aktive Lehr- und Beratungslehrkräfte im Förderschwerpunkt Sehen sowie andere Fachkräfte und Interessierte geöffnet. In den digitalen Begleitseminaren lernen Studierende somit gemeinsam mit bereits aktiven Lehrkräften.

    Interessant dürfte das Angebot auch für angehende Schulbegleitungen sein, die es im Rahmen ihrer Grundausbildung nutzen. Außerdem kann das Angebot auch für Studierende oder bereits berufstätige Lehrkräfte anderer allgemeiner oder sonderpädagogischer Lehrämter passend sein, die sich für die Thematik interessieren oder sich auf den anstehenden Schulbesuch einer sehbeeinträchtigten Person vorbereiten wollen.

    5. Umsetzung

    Nach umfassender Abwägung hat sich der Einsatz der Plattform Moodle als zielführend herauskristallisiert. Für die Lektionen wurde eine gleichbleibende Struktur gewählt, die nunmehr durchgehend aus fünf Abschnitten bestehen. Alle Abschnitte enthalten einen inhaltlichen Teil sowie Übungsaufgaben mit entsprechenden Korrekturhilfen. 

    Ausgangspunkt für die zu produzierenden Medien waren die bereits verfügbaren Arbeitsblätter, die in den vergangenen Jahren im Rahmen der Lehrtätigkeit des Projektleiters entstanden sind. Der praktische Nutzen lag dabei vor allem im Bereich der inhaltlichen Eingrenzung, während sich eine direkte Umsetzung durch die Mediendivergenz als wenig sinnvoll erwies.

    Das Rückgrat der Lektionen wird durchgehend durch Text gebildet. Als wesentlich für die Lektionen haben sich aber auch Erklär-Videos herausgestellt, um die Potentiale multimedialer Angebote zu nutzen. Die Videos werden auf der Plattform YouTube verfügbar gemacht und von dort in die jeweiligen Lektionen eingebunden. Für den Schnitt und die Nachbearbeitung der Videos wird die Software Camtasia verwendet. Ein weiterer wichtiger Baustein sind die Screencast-Videos zur Visualisierung operativer Routinen am Bildschirm, die ebenfalls durch eine Verlinkung aus dem YouTube-Kanal in die Lektionen eingebunden werden. Schließlich werden in den Lektionen Textdokumente verwendet, die als barrierefreie PDFs angeboten werden.

    Das Lernangebot ist auf der Moodle-basierten Plattform der AIM verfügbar und wird dort auch weiterhin als dauerhaftes Angebot nutzbar sein.

    Nach Abschluss der Überarbeitungen wird aus dem bestehenden Lernangebot ein Lehrbuch ausgegliedert, das als digitales barrierefreies Buch zur Verfügung gestellt werden soll. Nicht unerwartet, ergeben sich in Moodle an diversen Stellen für nicht primär visuell orientiert arbeitende Personen durchaus einige Barrieren. Selbstverständlich bietet ein Lehrbuch keinen Ersatz, aber zumindest eine gute Ergänzung.

    Eine inhaltliche Übersicht zu den erarbeiteten Lektionen findet sich unter: Modul: Assistive Technologien.

    Seit 3 Jahren werden die verfügbaren Inhalte begleitend in den entsprechenden Lehrveranstaltungen in Berlin und Würzburg eingesetzt und anhand des Feedbacks der Studierenden weiter verfeinert. Hieraus ergab sich dann schrittweise auch die gesamte inhaltliche Struktur. Im April 2022 wurden die Inhalte in einem fachlichen Experten-Kolloquium überprüft, korrigiert und erweitert. Beim praktischen Einsatz des so entstandenen Lernangebots zeigte sich jedoch erneut eine erschwerte Zugänglichkeit für die durchschnittlichen Teilnehmenden. In der nun laufenden finalen Überarbeitungsphase wird nun das gesamte Lernangebot in eine deutlich weniger wissenschaftliche Sprache überführt und im kommenden Sommersemester 2023 final getestet.